Das scheint die zutreffendste Beschreibung für mein Lächeln. Nicht Lächeln Ausrufezeichen, Lächeln Fragezeichen oder Lächeln Punkt, Punkt, Punkt. Nein. Nur Lächeln Punkt. Schnörkellos. Und vor allem mit geschlossenen Lippen. Denn ich kann es mir nicht erlauben, Zähne zu zeigen.
Oftmals ist das schwierig. Beim Lachen muss ich die Hand vor den Mund halten. Wenn Thorsten mich zum Lachen bringt, bringt meine 'keusche Hand', wie er sie nennt, wiederum ihn zum Lachen. Auch beim Reden ist Vorsicht geboten, aber das ist einfacher, als man vielleicht vermuten mag. Bei einem Gespräch blicken mir die Leute meist in die Augen, zuweilen auch etwas tiefer, kommt ganz auf meine Garderobe an, aber selten blicken sie auf meinen Mund. Schwieriger wird es, wenn ich etwas erzähle, das mich zum Lächeln bringt. Solche Sachen behalte ich dann lieber für mich.
Die einzige Zeit im Jahr, in der ich unbeachtet lächeln kann, ist die Pfingstzeit, die Zeit des Leipziger Wave Gotik Treffens. Ich habe es zu einer persönlichen Tradition erhoben, jedes Jahr in diese Stadt zu fahren, nur um breit lächelnd die Schattenseite der Straßen entlang zu spazieren. Dann lächle ich all die kunstvoll geschminkten Leute an, die, überwiegend in Schwarz gekleidet, dennoch bunt auf mich wirken, bunt und verschieden und auf eine besondere Weise frei. Ich lächle die Gesichter an, die sich das Lächeln für vier Tage versagen; lächle die Blicke an, die mein Lächeln umschwirren; lächle die Lächelnden an, die sich von meinem Lächeln haben anstecken lassen; lächle, lächle, bis mir der Kiefer schmerzt; lächle, bis ich high bin vom Lächeln.
Begegne ich jemandem, der ebenso breit lächelt und ähnlich spitze, lange Eckzähne entblößt wie ich, komme ich nicht umhin, mich zu fragen: "Trägt hier jemand seine Plastikzähne zur Schau, oder bin ich gerade einem Wesensverwandten begegnet?"
Ich halte inne, wende mich kurz um, begegne einem zu mir zurück geworfenen Blick, ein Moment der Unbestimmtheit vergeht, dann trennen sich unsere Blicke wieder, wir wenden uns ab, und jeder geht seines eigenen Weges.
 
Gestern Abend war in der Bar nicht viel los. Die wenigen Gäste hatten den Anstand, nacheinander zu kommen und nacheinander zu bestellen, sodass für mich nicht eine Minute im Stress verging. Es sind jene Abende, die mir die Zeit geben, die Gäste der Bar zu beobachten, die so verschieden sind wie die Drinks auf der Karte. Es sind jene Abende, die mir die Muße erlauben, mich darüber zu freuen, einen ausgefallenen Cocktail mixen zu dürfen. Oder einen Klassiker, der schon angestaubt ist, weil er heutzutage nur selten gewünscht wird. Es sind aber auch jene Abende, an denen ich mich einsam fühle, denn unter der Woche ist nur ein Barkeeper vonnöten. Thorsten hatte frei. Um dieser Einsamkeit etwas entgegenzusetzen, ließ ich am Anfang des Abends eine Scheibe der Band Arcade Fire laufen, die Thorsten so liebt und sich von mir auch nicht beirren lässt, wenn ich ihm sage, dass es das alles schon einmal gab, und zwar besser, von David Bowie.
"David Bowie ist bekennender Arcade-Fire-Fan."
"Ich weiß. Wahrscheinlich, weil er sich geschmeichelt fühlt."
Wie auch immer. Gestern fühlte ich mich durch die Musik erinnert an das Gegenteil meiner Einsamkeit, auch wenn ich das in Thorstens Hörweite wohl niemals zugeben würde.
Eine elegante alte Dame bestellte einen Mai Tai, obwohl ich finde, dass ein Lady's Sidecar besser zu ihr gepasst hätte. Die Leute bestellen nie, wirklich nie, was zu ihnen passt. (Gut, ich muss zugeben, auch ich gehöre zu jenen Leuten. Mein favorisierter Cocktail ist nicht etwa Bloody Mary, sondern Singapore Sling.)
Einen Tisch am Fenster hatten ein Mann und eine Frau belegt, von denen ich bis jetzt nicht sagen kann, ob sie ein Paar sind, gute Freunde oder Geschwister. Er setzte den ganzen Abend über seinen Hut nicht ab, sie tippte von Zeit zu Zeit neckend an seine Krempe. Dass sie im Rollstuhl saß, bekam ich erst mit, als die beiden die Bar verließen. Cindy, die Kellnerin, hatte mit den beiden keinerlei Mühe, denn immer, wenn das Glas seiner Begleiterin leer war, ging er persönlich zur Bar, um neue Drinks zu holen. Schwarzbier für sich selbst, Manhattan für sie. Zwar nicht angestaubt, aber immerhin ein Klassiker.
 
Thorsten und ich frühstücken manchmal gemeinsam, meist bei ihm, ab und zu auswärts, seltener bei mir, denn er findet meine Küche zu klein und meine Auswahl an Utensilien nicht ausreichend. ("Was, du hast nicht mal ein Käsemesser?") Mir ist das nur recht, denn so bin ich selten gezwungen, meine Wohnung thorstenkompatibel herzurichten.
Heute Morgen läutete ich bei ihm, in der Hand eine Tüte mit Brötchen vom Eckbäcker, die noch warm waren.
"Guten Morgen", sagte Thorsten. "Oder wie auch immer man das nennen will."
Er sah so verschlafen aus, wie ich mich fühlte. So geht es uns oft nach einer Schicht in der Bar. Er nahm mir die Tüte ab und deutete auf den Stuhl, auf dem ich gewöhnlich sitze. Keine Minute später brachte er mir eine Tasse heißen Kaffees, um gleich darauf wieder in der Küche zu verschwinden. Ich habe mir abgewöhnt, ihn zu fragen, ob er meine Hilfe benötige, denn seine Antwort war noch nie eine andere als: "Nein, ich mach das schon."
Stattdessen nutze ich nun stets die Zeit seiner Abwesenheit, um meinen Flachmann aus der Handtasche zu ziehen, ihn aufzuschrauben und einen kräftigen Schluck Rinderblut in den Kaffee zu gießen. (Das Blut habe ich mit Natriumcitrat vermengt, um es am Gerinnen zu hindern.)
Nachdem Thorsten den Tisch gedeckt hatte - Brötchen im Brotkorb, Käse, Tomaten, hausschlachtene Wurst, Meerrettich, Marmeladen und, obwohl Teil des Wursttellers, eine eigene Erwähnung wert: Blutwurst - setzte er sich zu mir an den Tisch. Wir stießen mit unseren Kaffeetassen an, dann tranken wir. Thorsten verbrannte sich die Zunge wie so oft. Ich erhob mich und lief zu seinem Schreibtisch, um die Wasserflasche zu holen, die zwischen der Tiffanylampe und dem Laptop stand. Nachdem ich ihm die Flasche gegeben und er einen Schluck daraus genommen hatte, nickte er und sagte: "Danke."
Ich schnitt ein Brötchen auf, belegte eine Seite dick mit Blutwurst und klappte es wieder zusammen. Bevor ich hineinbiss, sagte ich: "Die Lampe passt nicht zu dir."
Er lächelte verschmitzt. "Ich habe sie aber gewonnen."
Das hat er in der Tat. Bei der einzigen Gelegenheit, in der es ihm gelang, eine Partie Halma gegen mich zu gewinnen.
 
... kann ich nicht widerstehen. Ebenso roten Zwiebeln, reifen Tomaten, Himbeerbonbons oder Grenadine. Aber auch rotlackierten Fingernägeln oder rotgekleideten Leuten. Der Klassiker ist der rote Schal auf schwarzem Grund. Drei Etagen unter mir wohnt eine Frau, die ihr Haar als Bubikopf zur Schau trägt, jedoch nicht wie Dorothy Parker oder Louise Brooks in dezentem Schwarz, sondern knallrot gefärbt. Wenn wir uns im Treppenhaus begegnen, komme ich nicht umhin, sie anzustarren, während sie die Treppe hinauf hastet oder hinunter hüpft.
Zu behaupten, nicht zu wissen, warum Rot meine niederen Instinkte weckt, wäre Heuchelei. Rot ist nun einmal die Farbe meiner unanständigen Träume, Rot ist die Farbe von Blut.
Nur leider nicht die Farbe von Blutwurst.
 
"Ich weiß, ich bin zu spät, du bist sauer, du sagst, das ist unverantwortlich. Du hast recht. Ich werde mich nie ändern." Ich musste mich zu Thorsten hinabbeugen, ihm ins Ohr schreien, um durch die Musik zu ihm vorzudringen.
Thorsten hatte keine Zeit zu reagieren, da er gerade Cachaca in zehn Caipirinha-Gläser goss, in jeder Hand eine Flasche haltend und sich von außen nach innen vorarbeitend. Als sich die beiden Flaschen in der Mitte getroffen hatten, stellte er sie zurück in den Barstock. Die in seiner linken Hand zu seinen Flaschen, die Flasche in seiner rechten zurück zu meinen. Sonst hasse ich es, wenn er das tut. Wenn er sich meiner Flaschen bedient, um seine Show zu präsentieren, gerade in dem Moment, in dem ich den Cachaca dringend benötige und, nein, nicht erst einmal schnell zwei andere Cocktails vorbereiten kann.
Thorsten warf mir einen kurzen Blick zu, ich lächelte schief und knöpfte meinen Mantel auf. Nachdem ich den Mantel an den Garderobenständer gehängt hatte, der hinter der Tür mit dem Schild 'Nur für Personal' steht, nahm ich meinen Platz hinter der Bar ein, um Cocktails und Drinks zu mixen, die sich die Gäste entweder direkt am Tresen bestellten oder die Kellnerinnen zu ihnen trugen.
Pina Colada, Peach Dream Lady, Sex On The Beach, Lady's Sidecar, Caipirinha, Wodka-Martini, Mai Tai. Eine kurze Zeit der Ruhe, dann: "Ich nehme einen Tequila." Ich blickte dem Mann ins Gesicht, nickte und stellte ein Schnapsglas auf den Tresen. Das füllte ich mit dem gewünschten Schnaps und steckte einen Zitronenschnitz an den Rand. Als ich zum Salz greifen wollte, sagte der Mann: „Nein, kein Salz.“ Die Frau neben ihm kicherte und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Ich erstarrte in meiner Bewegung. Meine Hand klebte am Salzstreuer und meine Augen an ihren Brüsten, die durch die schwarze Spitze ihres Büstenhalters hindurch schimmerten. Ich riss meine Augen los und warf Thorsten einen Blick zu. Er schüttelte langsam den Kopf, lächelte dabei allerdings. Die Frau legte sich rücklings auf zwei Barhocker, so gut es ging. Ihre Beine hingen nach unten, den Kopf hielt sie in der Schwebe. Ihr Freund drückte die Zitronenscheibe über seinem geöffneten Mund aus, dann goss er den Tequila in ihren Bauchnabel, sie schrie auf. Die Flüssigkeit rann über ihren Bauch und tropfte auf den Fußboden. Alle starrten, als der Mann begann, den Tequila aus ihrem Bauchnabel zu schlürfen.
"Hast du nichts zu tun?", rief ich Thorsten zu. Er zuckte zusammen, blickte mich an und lächelte um Nachsicht heischend. Inzwischen hatte sich die junge Frau wieder aufgerichtet und war dabei, sich ihr Shirt überzuziehen. Ihr Freund drückte sie an sich und küsste sie, sie lächelten einander an, dann wandten sie sich mir zu und lächelten mich an. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als die Frau sagte: "Zwei Caipis bitte."

"Du musst dir das echt abgewöhnen", sagte Thorsten, als alle Gäste verschwunden waren, wir die Tür abgeschlossen hatten und Stille sich über die Unordnung gelegt hatte, die der Abend und die Nacht hinterlassen hatten. Die Stille hatte etwas Feierliches an sich, das auch Thorsten wahrzunehmen schien, denn seine Worte kamen nur als Flüstern aus seinem Munde. "Ich rede vom Zuspätkommen."
"Das habe ich mir schon gedacht."
"Das wird dich irgendwann den Job kosten."
"Dann suche ich mir einen neuen."
"Und was soll ich dann machen?"
Ich ließ Thorstens Frage unkommentiert und stellte die gebrauchten Gläser in die Spülmaschine. Nach einer Weile fragte Thorsten: "Lust auf Frühstück nachher?"
Ich nickte.
"Um neun bei mir?"
"Gut. Ich werde versuchen, pünktlich zu sein."
Thorsten verdrehte die Augen. "Wenn ich das schon höre."
 
Bin schon sehr spät dran heute Abend, sehr spät. Ich wünschte, ich könnte mir etwas Zeit vorschießen lassen, habe doch ohnehin genug davon ... nur nicht heute. Wollte ich pünktlich sein, müsste ich mit ungefähr 60 km/h fliegen und dabei die Luftlinie nehmen. Aber in eine Fledermaus verwandeln kann ich mich nicht.
 
Manchmal wird die Zeit verweht, manchmal fliegt sie in die Augen und brennt, manchmal möchte ich sie festhalten, öfter aber will ich sie nur vor mir hertreiben, bis sie quiekend zusammenbricht.
Wenn ich zu lang über die Zeit nachdenke, gleicht sie einem Topf, gefüllt mit Wasser, das nicht zum Kochen kommt, solange ich daneben stehe und darauf warte ... bis ich bemerke, dass ich vergessen habe, den Herd anzudrehen.
Der Älteste, den ich kenne, sagte einst: "Das wird schlimmer mit der Zeit."
"Die Zeit wird schlimmer mit der Zeit?", entgegnete ich und versuchte zu lächeln.
"Du hast gut Lachen, du bist noch jung!"
Jung? Knapp zweihundert Jahre und jung?
Aber er hat schon recht. Im Vergleich zu ihm bin ich jung. Wir nennen ihn den 'Alten'.
Wir. Wir sind nicht viele. Ich kenne nicht viele. Neben dem Alten einen, der jünger ist als ich, und meinen 'Vater'. Das ist alles. Ich habe keine Ahnung, wie viele unserer Art existieren, und ich weiß nicht, ob der Alte der Älteste überhaupt ist. Er gibt die Erkenntnisse, die seine Jahrhunderte ihm eingebracht haben, nicht preis, nur seine Halbweisheiten: "Tu alles, was du zu tun begehrst, solange du noch jung bist, und bring es zu Ende. Später wirst du nicht mehr dazu imstande sein."
Nach seiner Definition bin ich noch jung. Zu Ende gebracht habe ich bisher aber nichts bis auf das Erlernen der Singenden Säge.