Weiße Flocken umschwirrten letzte Nacht die Straßenlampen und glühten für einen Moment natriumgelb auf, bevor sie ihren Weg zum Boden fortsetzten und von den nachfolgenden Schneeflocken verdrängt wurden. Ich genoss die stille Kälte, die sie auf der Haut meines Gesichts hinterließen, während ich meinerseits den Weg fortsetzte, den ich genommen hatte, nach Hause. Kälte ist für mich nichts Unangenehmes, weil meine Körpertemperatur einige Grade niedriger ist als die der Menschen. So ist der Temperaturunterschied zwischen Umgebung und meinem Körper nicht so groß, ich benötige weniger Energie, um meine Körpertemperatur aufrechtzuerhalten und ... friere nicht so schnell. Was im Winter schön ist, ist im Sommer unangenehm, denn da komme ich leichter ins Schwitzen. Für Madame ist das nicht so gut, denn ihrer Meinung nach könnte es wenigstens in meinem Wohnzimmer etwas wärmer sein. Als ich meine Wohnung betrat, lag die Katze langgestreckt auf dem Fensterbrett, das vom darunter stehenden Heizkörper mehr schlecht als recht erwärmt wurde, und sah nach draußen. Ihr Kopf zuckte hin und her beim Versuch, jede einzelne Schneeflocke mit dem Blick einzufangen. Ich setzte mich zu ihr, drehte die Heizung etwas höher, und blickte ebenfalls nach draußen. Abgesehen von einem Klavier, das dazu gebracht wurde, eine Melodie zu ertasten, hörte ich keinen Ton. Ich frage mich, ob es das Klavier war, das ich vor drei Wochen im Flur stehen sah.
Ein frohes neues Jahr wünsche ich allen Leuten da draußen, Menschen wie Vampiren.
Gez. Anna ;-)
Meine Absätze klapperten auf den Treppenstufen. Einen Augenblick zuvor hatte ich die Wohnungstür hinter mir zugeworfen. Ich befand mich auf dem Weg zu Thorsten, wollte aber vorher zum Bäcker. Ich lief nicht besonders hastig, denn ich wusste, ich würde zu spät kommen. Thorsten macht es nichts aus, er hat sich daran gewöhnt, so wie ich mich an seine Kunststücke hinter der Bar gewöhnt habe. Und an das Scheitern dieser von Zeit zu Zeit. Gestern Abend war mir Limettensaft ins Auge gespritzt, außerdem war ich noch etwas verschlafen, daher lief ich mehr blindlings als sehend die Treppe hinab und bemerkte das Klavier erst, als ich unmittelbar davorstand. Obwohl ich spät dran war, blieb ich stehen, um es zu bewundern. Ich fuhr mit der Hand über die glänzende Oberfläche des Klavierdeckels, klappte ihn verstohlen auf und strich mit den Fingern über die Tasten, ohne sie zum Klingen zu bringen. Bald hielt ich inne, blickte nach hinten über meine Schulter, dann nach vorn, beugte mich über das Treppengeländer, schaute und lauschte. Keine Schritte zu hören, niemand zu sehen. Ich wandte mich wieder dem Klavier zu, bewegte meine Hand zu den Tasten, hielt sie kurz darüber in der Schwebe und den Atem an. Totenstille. Gerade, als ich meinen Zeigefinger nach unten bewegen wollte, um einer der weißen Tasten einen Ton zu entlocken, erklang ein heiseres Krächzen. Ich zuckte zusammen und sprang nach hinten. Hastig blickte ich um mich, konnte aber niemanden und nichts entdecken. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte und mich besonnener umschaute, entdeckte ich auf dem Fensterbrett etwas Zylinderförmiges, das von einem Tuch verhüllt war. Zwei Schritte, die es brauchte, um hinzugelangen, schlich ich. Vorsichtig beugte ich mich hin, um das Tuch und das Geheimnis, was sich darunter verbarg, zu lüften. Es war ein Papagei in einem Vogelbauer. Als sein Blick meinen traf, ließ er abermals ein heiseres Krächzen vernehmen. Ich lächelte, nickte dem Papagei zu und sagte: "Entschuldigung." Bevor ich mich wieder auf den Weg machte, ließ ich das Tuch herunter und klappte den Deckel des Klaviers zu. Es hatte die ganze Zeit über geschwiegen.
Auch Vampire fühlen sich von Zeit zu Zeit krank. Ich befand mich auf dem Weg zur S-Bahn, als mein Magen zu schmerzen begann, machte mir darüber aber keine Sorgen, denn ich hatte eine Stunde zuvor ein ganzes Glas Thüringer Rotwurst ausgelöffelt, davor allerdings zwei Tage lang gar kein Blut zu mir genommen. Ich schob mein Unwohlsein auf diese Abstinenz, gefolgt von einem Überfluss. Als ich in der S-Bahn saß, wurden die Magenkrämpfe schlimmer. Ich lehnte mein Gesicht gegen die Fensterscheibe, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Die Blässe, die mir ins Gesicht stieg, konnte ich regelrecht spüren. Einatmen, ausatmen, die Gedanken darauf fokussieren, darauf und auf die willkommene Kälte des Fensterglases. Warum hatte ich die Blutwurst nur komplett aufgegessen? Und dann auch noch so schnell? Der Gedanke daran ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Ich musste hier raus! An der nächsten Station angekommen, setzte ich diesen Gedanken in die Tat um, jedoch nicht allein. Mein Körper, von zwei Tagen des Blutverzichts geschwächt, drohte, mich im Stich zu lassen. Mir wurde schwindelig. Gerade wollte ich mich an einer Haltestange festklammern, als ein Arm meinen Arm unterhakte, ein sicherer Griff mich auffing, aus der S-Bahn beförderte und auf eine Bank setzte. Dankbar blickte ich den Menschen an, der mir geholfen hatte und nun neben mir saß. Mein Blick traf auf ein Paar brauner Augen und ein besorgtes Lächeln. In gebrochenem Deutsch fragte mich die Frau, ob alles in Ordnung sei. Ich schüttelte den Kopf, entrang mir aber ein schwaches Lächeln. "Das wird schon wieder." Die Frau machte keine Anstalten, den Platz neben mir zu verlassen, Menschen liefen hektisch an uns vorbei, manche blickten uns unverhohlen an. Wir erlebten einen Augenblick, den ich trotz der Schmerzen als einen Moment der Ruhe und Geborgenheit erlebte, der, wie ein Heizpilz Wärme, die Gewissheit ausstrahlte: Alles wird gut. Als wieder eine Welle starken Schmerzes aufflutete, atmete ich schwer und krümmte mich leicht, ich konzentrierte meine Gedanken auf meine Atemzüge und meinen Blick auf die weißen Tupfen, die das Blau des Kopftuchs der Frau zierten. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie. Die Wärme ihrer Hand ließ mich kurz zurückzucken. Sie sagte: "Ihre Hand ..." "Kalt, ich weiß." Das ist normal, aber das sagte ich ihr nicht. Langsam verebbte der Schmerz. Bevor er wieder aufbranden konnte, griff ich nach meinem Handy. Ich blickte die Frau an und sagte: "Vielen Dank." "Kommen Sie zurecht?" Ich nickte. "Ich rufe einen Freund an." So wählte ich Thorstens Nummer, um mich, nachdem mich die Hilfe einer Fremden gerettet hatte, der Hilfe eines Freundes anzuvertrauen.
"Mir geht es gut, sehr gut, sehr gut." Kurz bevor mein Vater wieder abreiste, trafen wir uns. Wir hatten uns per Telegramm, nein SMS, verabredet, saßen auf den Barhockern eines im 50er-Jahre-Stile hergerichteten Burger-King-Restaurants und tranken Milchshakes. Ich liebe das Zerknacken der winzigen Eispartikel im Mund, das macht die Verwässerung des Getränks wett. Wir aßen jedoch keine Burger. Der für uns passende muss erst noch erfunden werden. Big Blutwurstking oder Blutwurst Nuggets Burger. Von der Bahnhofshalle her drangen Geräusche ein- und ausfahrender Züge zu uns und erinnerten an die bevorstehende Abfahrt. Ich sagte: "Wenn man es mal braucht, dass der Zug Verspätung hat ..." "Ist er pünktlich wie die Eisenbahn", beendete mein Vater den Satz. "Das ist lange her." "Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht." "Mir geht es gut." "Kein Rückfall?" "Nein." "Genau das Gefühl hatte ich, als ich dich Cocktails mixen sah. Ich wollte nur sicher gehen. Gehört die Bar dir?" Ich schüttelte den Kopf. "Dann wird sie bald dir gehören?" Ich lächelte. "Nicht dass ich wüsste. Ich treibe so dahin, habe keine Ambitionen. Wobei ... vielleicht geraten Thorsten und ich ja - Thorsten ist mein Kollege - vielleicht geraten wir par erreur an die Bar. Der Chef sitzt nämlich im Knast." "Warum denn das?" "Wegen Erschleichens von Sozialleistungen." Ich lachte. "Wenn die nur wüssten, was ich mir schon alles erschlichen habe. Namen, Identitäten." "Schall und Rauch."
Berlin des Anfangs des 20. Jahrhunderts war, anders als auf den Photographien, schillernd und bunt. Ich fing in einem Kabarettschuppen an, dem Chat Noir, noch bevor dieser, als der Nationalismus auch in den Alltag Einzug hielt, in Schwarzer Kater umbenannt wurde. Machte weiter mit meinem eigenen Kabarettschuppen, dehnte mein Geschäft aus, indem ich zwei weitere Häuser erwarb, und fand ein jähes Ende Anfang der 30er Jahre, als ich mich gezwungen sah, meine Häuser zu schließen und das Geld zwischen meinen Angestellten und mir aufzuteilen. Doch das ist eine andere Geschichte. Noch sind wir im lebenslustigen Berlin der Weimarer Republik. Als ich eine Varietétänzerin im Chat Noir war, gönnte ich mir nur wenig Schlaf, denn ich wollte das Leben auskosten bis zum letzten Tropfen. Damals standen mein Vater und ich uns sehr nahe, nicht wie Vater und Tochter, sondern wie Geschwister, die wir vom Alter her auch waren. Wir trafen uns nahezu täglich im Romanischen Café. Wenn ich ihn sehen wollte, brauchte ich nur hinzugehen und fand ihn in diesem Café, wo Künstler in Wartestellung ihrer Entdeckung harrten, wo hübsche Frauen mit Bubikopf und Zigarette im Mundwinkel zwischen ihnen wie Vögel umherschwirrten oder schweigend und abschätzigen Blickes die geheimnisvolle Kühle markierten. Mein Vater besuchte das Café nicht, um entdeckt zu werden, sondern genoss lediglich diese Atmosphäre der Erwartung. Außerdem wurde er es nicht müde, die Leute zu beobachten, die so bunt und verschieden waren wie die einzelnen Zeitungsschnipsel einer Dada-Collage, und die doch zwei Dinge gemeinsam hatten: die Hoffnung auf eine einzige große Chance und die Furcht, sie zu verpassen. Das Romanische Café war ein zweites Wohnzimmer für meinen Vater, die Gäste seine Großfamilie. Eines Tages jedoch traf ich ihn nicht an, am nächsten Tage ebensowenig. Nach einer Woche begann ich, mich um ihn zu sorgen. Nach einer weiteren Woche gab ich ein Telegramm auf. Ich kannte die Adresse seiner Wohnung und hätte auch selbst hingehen können, aber wir haben eine inoffizielle Abmachung: keine Überraschungsbesuche in der Wohnung und niemals einen anderen Vampir dazu zwingen, sich eine Erklärung aus den Fingern saugen zu müssen. Also gab ich ein Telegramm auf. Und bekam eine Antwort, als ich schon gar nicht mehr mit einer solchen gerechnet hatte: "Sehr gut. Ich bin verliebt. Gez. Konrad." Es war nicht das erste Mal, dass mein Vater sich verliebte, auch nicht das heftigste Mal, aber es war das erste Mal, dass sie ihn verließ, bevor er es tat.
Der Stille dieser Stunde, die nicht mehr ganz zur Nacht gehört aber auch noch nicht Morgenstunde genannt werden kann, haftet etwas Friedliches an. Ich sitze auf dem Fensterbrett und lese Graham Greenes Stunde der Komödianten. Anfang der 70er Jahre habe ich das Buch in Originalsprache gelesen, jetzt nehme ich es noch einmal auf Deutsch zur Hand, weil ich den Titel so, wie er übersetzt wurde, schön finde. Madame liegt neben mir auf einem Kissen, schläft und schnurrt im Schlaf. Ich spüre es als leichtes Vibrieren an meinem Schenkel. Als die Stunde beginnt, ihre Stille und Unbestimmtheit abzuschütteln, klappe ich das Buch zu. Das Rauschen vorbeifahrender Autos wird häufiger, Frauenschritte klappern auf dem Asphalt, Stimmen transportieren Grüße. All diese Geräusche klingen verhalten, als läge der Schlaf noch auf ihnen wie eine Staubschicht. Dies ist keine Stadt, die niemals schläft. Ich greife nach meinem Handy und tippe eine SMS an meinen Vater. Sie hat etwa den gleichen Wortlaut wie ein Telegramm, das ich Anfang des letzten Jahrhunderts an ihn übermitteln ließ: "Geht es Dir gut? Gez. Anna."
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